Was ist passiert?

Die Geburt wurde eingeleitet. Zu dem Zeitpunkt hatte ich genau eine Woche übertragen. Die letzten Fruchtwasserreserven, die nach heutigem Kenntnisstand gar nicht hätten existieren können, waren am Ende. Die Einleitung war mein Wunsch und notwendig war sie auch. Gesagt, getan. Ich kämpfte 23 Stunden insgesamt, nach der Einleitung. Gegen Einleitungswehen, die geradewegs aus der Hölle zu kommen schienen. Also, alles völlig normal, soweit. Ich übergab mich fortwährend. Jeder Tropfen Wasser kam bei der nächsten Wehe wieder heraus. Schon nach wenigen Stunden hatte ich überhaupt keine Energie mehr und war dehydriert. Die zuständige Beleghebamme schlug vor, dass eine PDA mir Erleichterung verschaffen würde und ich mit etwas Glück vielleicht sogar eine Stunde schlafen könne, um Energie zu tanken. Ich willigte ein. Was eine gute Entscheidung war. Ich hatte nie eine PDA gewollt. Zu viel Angst davor, eine Riesennadel ins Rückenmark gestochen zu bekommen. Ich weiß aber noch genau, dass ich da saß, den Kopf an die Brust meines Mannes gelehnt und dachte "Scheiß drauf! Dann biste halt ab sofort querschnittsgelähmt, aber dafür hört der Schmerz endlich auf!"
Keine Sorge, ich war danach nicht querschnittsgelähmt. Es lief alles gut.
Als der Muttermund soweit war, einen kleinen Menschen rauszulassen, sollte das Gefühl wiederkommen - für die Presswehen. Das war heftig! Denkt an den schlimmsten körperlichen Schmerz, den ihr jemals gespürt habt und multipliziert den mit zehn. Dann hab ihr's in etwa. Soweit also auch alles normal. Das Irre am Geburtsschmerz ist aber, dass dieser Schmerz gut ist. Er ist keine Nebenwirkung einer Verletzung, kein Ausdruck davon, dass dein Körper um sein Leben kämpfen muss. Dieser Schmerz ist eine Naturgewalt, um das Beste in dir und aus dir hervorzubringen. Ich kämpfte, einem guten Rat folgend, nicht dagegen an, sondern arbeitet mit dem Schmerz zusammen.
Nach 30 Minuten Presswehen, war mein Kind noch immer nicht da und die Hebamme machte ein seltsames Gesicht. Das "Hm", das sie dann von sich gab, machte mir Angst. Sie beruhigte mich und sagte, sie hole den Arzt. Der Arzt kam. Ich brüllte ihn schmerzerfüllt, mitten in einer Presswehe, an "Schneiden Sie ihn aus mir raus!!!" Der Arzt meinte nur "Na, na! Wir machen hier keine Spaßkaiserschnitte!" Wäre ich nur ansatzweise mobil gewesen, hätte ich diesen (wirklich sehr netten!) Arzt wahrscheinlich kurzerhand erschlagen und danach aufgefressen.
Schließlich tastete er selbst und kam zu dem Schluss "Alles klar, fertigmachen zur Sectio!"
Die PDA wurde wieder eingeleitet, der Schmerz hörte auf und als ich im OP lag, war ich schon wieder für Scherze zu haben. Die Operation verlief sehr gut. Unser Sohn wurde auf die Welt geholt und war viel größer, als erwartet. Kein Wunder, dass mir meine Organe die ganze Schwangerschaft über so weh getan hatten! Wie hatten Kind und Organe da überhaupt alle gemeinsam reingepasst? (Eine Frage, die ich mir auch heute noch stelle.) An meinem Beckenknochen wäre eine Anomalie (eine Art "Hubbel" am Knochen) gewesen, die eine vaginale Geburt final dann einfach verhindert hatte, weil dieses Kind da nicht dran vorbei gepasst hätte, hieß es. Erst später sagte man uns, dass bei unserem Sohn für einige Augenblicke keine Herzschläge mehr zu hören gewesen waren. Nach so langen, anstrengenden und sinnlosen Presswehen, hatte der kleine Kerl fast aufgegeben. Aber eben nur fast! Er lebte, er schien gesund, wir waren sehr, sehr glücklich! Als man ihn mir auf die Brust legte, sagte ich "Hey, da bist du ja endlich. Wir haben soooo lange auf dich gewartet!"
Und ich meinte nicht die letzten 10 Monate. Ich meinte einen viel, viel längeren Zeitraum. Weil mir in dem Moment der Sinn meines Lebens bewusst wurde.
Wir verbuchten dieses Erlebnis der Geburt unter "Knapp gewesen, aber saumäßiges Glück gehabt" und begannen damit, unser Baby kennenzulernen. Alles klappte so semigut bis normal. Stillen erwies sich als sehr schwierig. Die Schmerzen vom Kaiserschnitt fegte ich aber am nächsten Tag beiseite. Mein Ehrgeiz ließ nicht zu, dass ich in der Nacht jedes Mal eine Schwester rufen musste, um mein Kind zu wickeln. Mütter wickeln ihre Kinder. Ende. Die Schmerzen waren heftig. Aber sie waren mir einfach egal. Von wegen zu hohe Ansprüche an sich selbst und so. #unperfekt
In den folgenden Tagen wurde unser Sohn immer wieder untersucht. Im Blut wurde festgestellt, dass seine Bilirubinwerte zu hoch seien. Deswegen schlief er so viel, trank so wenig und hatte fast keinen Stuhlgang. Sorge machte sich breit. An Tag 3 kam abends eine Schwester ins Zimmer gestürmt. Unser Sohn würde wegen der hohen Biliwerte in die Kinderklinik verlegt werden. Jetzt. Sofort. Ich solle mein Zeug zusammenraffeln und ein Taxi würde uns hinbringen. Das würde schon unten warten. Davon wurden wir total überfallen. Schockstarre. Wir taten, wie uns geheißen, aber mein Mann durfte nicht mitfahren. Er musste mit dem eigenen Auto hinterher fahren. Er bot an, meinen Sohn und mich auch zu fahren, aber die Schwester sagte, das ginge nicht. Sie war sehr ärgerlich und drängte uns zur Eile. Das Taxi jagte durch die dunkle Januarnacht, über die Autobahn. Ich saß auf dem Rücksitz und weinte. Ich hielt die Hand meines schlafenden Babys und wusste nicht, was das jetzt alles so plötzlich sollte.
In der Kinderklinik angekommen, dackelte ich brav hinter der Schwester her, die uns begleitete. Den Maxicosi am Arm - trotz Kaiserschnittnarbenschmerzen. Wenige Minuten später, ließ man uns auf die Station. Ich las auf dem Schild "Säuglings-Intensivstation". Ich weiß noch, wie mein Puls sich so rasch beschleunigte, dass mir kurz schwarz vor Augen wurde, aber ich kippte nicht um - schließlich hielt ich meinen Sohn! Ohnmächtig werden, war keine Option! "Säug-säugling-Intensiv? Wie-ieso auf die Intensiv? Ist er... in Lebensgefahr?", hörte ich mich mit einer fremdartigen Stimme fragen. "Erklärt Ihnen dann der Arzt", sagte die Schwester barsch und drückte mich in einem großen, rechteckigen Raum, mit acht kleinen Kästen an den Wänden, auf einem Stuhl runter. Ich schälte mein Baby aus dem Maxicosi und presste es an mich. Die Strickjacke, die er vom Krankenhaus bekommen hatte, weil wir keine Wintersachen im Krankenhaus hatten, (da wir ja nicht mit einer Verlegung gerechnet hatten) sah furchtbar verwaschen und ranzig aus.
Erst jetzt erkannte ich, dass in diesen Kästen, die an den Wänden standen, Babys lagen. Babys, wie meins. An Kabeln, Schläuchen, Beatmungsgeräten... Lebensgefahr! All diese Babys schwebten in Lebensgefahr! Irgendwo piepte es und eine Schwester kam schnell angelaufen. Ich spürte, wie ich auf dem Stuhl zu wanken begann. "Nicht umkippen!", brüllte ich mich selbst in Gedanken an. "Ist... ist mein Sohn in Lebensgefahr?", fragte ich. Die Schwester ignorierte mich und entfernte sich, gen Schwesternzimmer.
Ich war allein.
Allein mit Baby. Auf der Intensiv. Meine Gedanken rasten.
Es konnten nicht nur die hohen Biliwerte sein! Die hatten sicher noch was Anderes gefunden! Deswegen auch diese Verlegung, so Hals über Kopf. Es musste was Schlimmes sein, sonst würden wir hier nicht auf einer Intensivstation für Babys sitzen. Warum sagte mir niemand etwas? Wollten sie es mir nur nicht sagen, damit ich nicht zusammenbrach? Wenn mein Mann kam, würden sie uns dann die Nachricht überbringen, dass unser Kind sterben würde? War er wirklich so krank?
Mein Hals schnürte sich zu. Ich bekam kaum noch Luft. Die Tränen liefen. Wo war mein Mann? "Ich hab dich doch gerade erst bekommen", hörte ich mich tonlos sagen. "Ich will dich doch nicht schon wieder verlieren..." Meine Stimme versagte. Nur noch ein ersticktes Pfeifen kam heraus. Ich spürte, wie mein Herz zu stolpern begann. Tock-tock-tock-tock ......... tock .... tock-tock-tock-tock. Ich presste mein Baby noch fester an mich. Ich begann zu schwitzen und gleichzeitig rann mir ein eisiger Schauer über den Rücken und kroch in mich hinein. Es fühlte sich an, als bestünden meine Organe aus Lava. Ein massiver Ansturm von Übelkeit erfasste mich. Meine Brust schien zu klein, für die Organe zu sein, die sich darin befanden. Es tat weh! Und vor meinen Augen sah ich Lichtreflexe tanzen, von denen ich wusste, dass sie gar nicht da waren. Irgendwo tickte eine Uhr. So laut, dass sich das Ticken wie Kanonenschüsse in meinen Ohren anhörte. Alles begann, sich in Zeitlupe zu bewegen. "Oh Gott, was passiert hier?", dachte ich. Von früheren Erlebnissen wusste ich: Das ist Angst. Große Angst. Eine Panikattacke.
"Hilfe", rief ich. Aber ich merkte, dass ich gar nicht rief. Ich quiekte. Erstickt. Und so leise, dass mich keiner hörte. Die waren ja alle im Schwesternzimmer. "Hilfe", piepste ich nochmal verzweifelt. Ich konnte nicht aufstehen. Dann wäre ich umgekippt. Ich hatte Angst, vom Stuhl zu fallen - aber ich hatte doch mein Baby im Arm. "Hilfe!", schluchzte ich nochmal. "Bitte helft mir!" Aber es kam niemand. Weil mich niemand hörte. Und sich auch niemand für die heulende Frau mit Baby interessierte. Eine von vielen, die sie hier sicher jeden Tag sahen. Ich begann zu hyperventilieren und zu zittern.
So verstrich die Zeit.
27 Minuten.
Diese 27 Minuten waren die schlimmste Zeit, in meinem bisherigen Leben. Ich hatte solche Angst! Und zum ersten Mal in meinem Leben, nicht um mich selbst. Ich hatte Angst, dass mein Baby sterben würde. Das war ein Gefühl, das ich zuvor noch nie verspürt hatte. Und nicht mal ansatzweise war es mit meinem Selbsterhaltungstrieb zu vergleichen.
Als mein Mann nach dieser knappen halben Stunde erschien, befand ich mich in einem Zustand zwischen katatonisch und komatös. Alles, was danach passierte, weiß ich nur, weil mein Mann es mir erzählte. Ich kann mich kaum daran erinnern, weil es sich anfühlte, als wäre ich in Watte eingewickelt. Alles hörte sich dumpf an. Alles bewegte sich in Zeitlupe.
Mein Mann wurde wütend, ein Arzt kam. Mir wurde eröffnet, dass das Kind aufgenommen sei, aber für mich (die noch stillende Mutter!) gab es leider kein Bett. Auf den Papieren der Verlegung, sei von der Verlegung der Mutter, keine Rede gewesen. Mein Mann stand kurz vorm Ausrasten. Man brachte mich dann unter, auf der Station für Risikoschwangere. Also Mütter, die ihr Baby noch in sich trugen, aber nicht wussten, ob es noch lebte oder wie lange es noch lebte usw.
In der Nacht fand ich mich in diesem Bett wieder. In einem Krankenhaustrakt, wie aus den 20ern. Hohe Decken, feuchte Wände, alles war laut und hallte. Es roch nach Schimmel und Desinfektionsmitteln. Die Schritte der Schwestern, auf dem Flur, klangen wie Geister, die umher wandern. Eine Schwester hatte mich zwischenzeitlich in den Arm genommen, weil ich so weinte, dass ich keine Luft mehr bekam.
Biliwerte. Nur die Bilirubinwerte. Keine Lebensgefahr. "Warum sind Sie überhaupt verlegt worden?", hatte der Arzt gefragt. "Wenn ich das hier richtig sehe, wurde optisch gemessen und dann ist der Wert immer etwas höher, als bei der chemischen Messung. Und so hoch ist das überhaupt nicht. Also, die Verlegung hätte jetzt nicht unbedingt sein müssen. Aber wir behalten Ihr Kind mal hier und er bekommt eine Phototherapie. Dann wird das schon."
Alles umsonst. Das alles... war völlig umsonst gewesen. Und jetzt lag ich hier, in diesem kalten Bett, in gestärkten Laken, mit Schmerzen. Und jede, absolut jede Faser meines Körpers schrie "DU! MUSST! ZU! DEINEM! KIND! JETZT!"
Ich schlief nicht. Ich schlich mich immer wieder zur Intensiv. Ich saß immer wieder bei meinem Sohn, hielt seine Hand, legte ihn an, überprüfte das Monitoring, wie es mir gezeigt wurde. Und die darauffolgenden Tage funktionierte ich nur. Wie eine leere Hülle. Ich legte mich ins Bett, ohne schlafen zu können, ich aß nicht, ich trank nicht, ich nahm meine Medikamente nicht, ich wusch mich nicht, ich ging immer wieder durch die gesamte Klinik, zur Intensiv. Immer wieder. Immer wieder. Immer wieder. Wie ein fetter Geist. Meine Füße hatten unsichtbare Spuren auf dem bunten Linoleum der Kinderklinik hinterlassen. So oft war ich diesen Weg gegangen.
Am Nachmittag des ersten Tages, saßen mein Mann und ich mit unserem Baby auf diesem orangefarbenen Sessel, neben den orangefarbenen Vorhängen des Intensiv-Zimmers und kuschelten unseren Sohn. Wir versuchten, ihm außerhalb seiner Phototherapie, ganz viel Nähe zu gönnen und die Bindung zu festigen. Während wir so da saßen, begann eins der Kästchen, auf der gegenüberliegenden Zimmerseite zu piepsen. Eine Mutter und ein Vater wurden hektisch. Zwei Schwestern kamen, nestelten irgendwann, stellten das Piepsen aus und drückten die Mutter in einen Stuhl hinein. "... sollten Sie die Verwandten anrufen..." und "... können wir einen Pastor zur Not-Taufe einbestellen, wenn Sie das wünschen.", hörten wir mit. Wir sahen uns an. Schweigend. Angsterfüllt. In der darauffolgenden Stunde erschien ein Pastor. Das Baby in dem piepsenden Kästchen - kaum größer, als zwei Hände - wurde notgetauft. Dann hörte sein Herz auf zu schlagen. Für immer. Die Laute, welche die Mutter des Babys von sich gab, haben sich in mein Gehirn eingebrannt, wie ein heißes Eisen. Ich werde sie nie, nie, niemals wieder vergessen können. Das war kein Weinen. Das war kein Schreien. Das war ein Geräusch, das nur Mütter erzeugen können, wenn ihr Kind tot ist.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, kam ein Seelsorger und nahm die Eltern mit hinaus. Auf dem Weg raus, wandte die Frau ihren Kopf in unsere Richtung. Mein Mann nestelte gerade am Monitor unseres Sohnes, aber mich schaute die Frau an, wie ich mein Baby im Arm hielt. Nur einen Sekundenbruchteil! Schuld. Ihr Baby war tot. Meins lebte. Ich fühlte mich schuldig dafür. Ich fühlte mich schuldig, dass mein Baby lebte und dass es weiterleben und diesen schrecklichen Ort auch lebendig verlassen durfte. Dieses Gefühl war so krank und so falsch!
Alles hier war krank und falsch! Keiner von uns sollte hier sein. Keiner von uns sollte das hier alles fühlen müssen.
Am zweiten Tag wurde unser Baby via Ultraschall untersucht. Die Nieren seien zu klein, hieß es. Zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht, was das bedeutet. Gott sei Dank. Wäre mir das in der Zeit klar gewesen, wäre ich aufs Krankenhausdach geklettert und gesprungen. Da bin ich mir zu 100 % sicher. Ich war in einem völlig irrationalen Zustand. Und niemand bemerkte das.
Nach drei Tagen baten wir um unsere Entlassung. Ich konnte nicht mehr. "Mein Sohn muss einfach nur zur Ruhe kommen. Ich muss zur Ruhe kommen. Dann werden seine Biliwerte sinken, Sie werden sehen!", erklärte ich tonlos und erschöpft. Aber ich war nur die Mutter. Und die die Ärzte. Mein Mann schimpfte uns quasi aus der Kinderklinik heraus. Endlich durften wir nach Hause. Mit der Verpflichtung, uns jeden Tag, zur Blutentnahme, in der Kinderklinik einzufinden, um die Biliwerte zu überprüfen. An den mittlerweile völlig kaputtgestochenen Füßchen unseres Babys. Das jedes Mal panisch zu weinen begann, sobald eine Person in heller Kleidung sich ihm näherte.
An den folgenden Tagen, in Ruhe und Geborgenheit Zuhause, sanken die Bilirubinwerte unseres Sohnes auf ein Normalmaß. Aber was wusste ich schon? Ich war ja nur die Mutter.
Wir bekamen für in vier Monaten einen Termin in der Nephrologie der Kinderklinik in Hamburg, um zu schauen, was mit den Nieren unseres Sohnes nicht stimmte. Bis dahin dachte ich, nun hätten wir endlich die Möglichkeit zur Ruhe zu kommen. Und für meinen Sohn traf das auch zu.
Aber nicht auf mich.
Die Geschehnisse nach der Geburt unseres Sohnes, ließen mich nicht los. Die Gefühle von unfassbarer Angst und schierer Verzweiflung, sowie Hilflosigkeit, verfolgten mich tagsüber, aber auch bis in meine Träume hinein. Ich schlief für die darauffolgenden zwei Jahre immer nur ca. 3 Stunden pro Nacht. Ich hatte Angst, vorm Schlafen, denn das Schlafen beinhaltete Albträume noch und nöcher.
Mombie ist ein Ausdruck, der Zombie und Mommy vereint. Das war ich zu der Zeit: Ein Mombie. Aber nicht deshalb, weil mein Baby mich rund um die Uhr brauchte. Es schlief sogar von Anfang an durch. Das war nicht das Problem. Das Problem war und ist bis heute:
Ich sehe die Farbe orange und muss an die Vorhänge auf der Intensiv denken, die orange waren. Es löst Panik aus. Ich rieche das Desinfektionsmittel, welches auf der Intensiv genutzt wurde. Es löst Panik aus. Ich spüre einen Velourbezug, wie auf dem Sessel, der neben dem "Kasten" meines Babys stand, wenn ich mich auf die Intensiv geschlichen hatte und ihn im Arm hielt. Der Bezug löst Panik aus. Ich benutze unbedarft eine Hautcreme, die ich zum Zeitpunkt der Geburt nutzte. Ich sehe den Tigel in meiner Hand und werde zurückgeschleudert, in die Vergangenheit. Wie ich in diesem 20er-Jahre-Trakt in diesem kleinen Krankenhausbad, vorm Spiegel stehe, den Tigel in der Hand und mich nicht erinnern kann, was man damit macht. Wie ich mich leichenblass aus dem Spiegel heraus anschaue und mich nicht erkennen kann, Angst bekomme. Dann schleudert es mich zurück in die Gegenwart und der Cremetigel im Jetzt, fällt scheppernd, aus meiner zitternden Hand, ins Waschbecken. Ich kann diese Laute nicht vergessen, welche die Mutter des sterbenden Babys machte. Sie verfolgen mich im wachen und schlafenden Zustand.
In meinen Träumen sitze ich mit meinem Baby im Arm, dicht an mich gepresst, in einem brennenden Haus und niemand kommt, um uns zu retten. Wir verbrennen, bei lebendigem Leibe. In meinen Träumen kaufe ich einen Babysarg. In meinen Träumen kondulieren mir Fremde. In meinen Träumen wird mein Baby notgetauft. In meinen Träumen sehe und höre ich die Mutter des toten Babys, wie sie sich windet und diese Laute macht. Und dann merke ich, dass ich diese Mutter bin und dass ich diese Laute von mir gebe. In meinen Träumen sprudelt Blut aus den Füßen meines Babys, bis es immer schwächer wird und stirbt und ich kann es nicht verhindern. In meinen Träumen werde ich von meinen Verwandten verprügelt, getreten, bespuckt und ausgelacht, weil ich mein Baby nicht beschützt habe.
Ich habe eine posttraumatische Belastungsstörung.
Ich weiß genau, dass es Menschen gibt, die viel, viel, viel Schlimmeres erlebt haben, als ich. Aber die menschliche Psyche funktioniert nicht, wie in einem Wettbewerb. Das Motto ist nicht "Wer hat das schlimmste Trauma erlebt?".
Leid ist subjektiv. Was für den einen banal klingt, ist für den anderen schlimm. Und für Hochsensible ist sehr Vieles schlimm. Aus dem Grund betrachte ich dieses Charaktermerkmal auch nicht als Segen. Es ist ein Fluch und ich würde sehr, sehr Vieles dafür geben, wenn dieser Fluch von mir genommen werden könnte...