Schambereiche

"Manche Menschen haben einen Penis und andere eine Scheide."
Ich weiß noch genau, als ich diesen Satz, meinem Sohn gegenüber, das erste Mal ausgesprochen hatte. Schon als Teenager wusste ich, wenn ich irgendwann mal Kinder haben würde, würde mir mindestens ein Aufklärungsgespräch bevorstehen. Als Teenager konnte ich mir das nur mit hochrotem Kopf vorstellen. Aber dann wurde ich erwachsen und lernte, wie mein Körper funktioniert, aber auch der, von anderen. Eine sehr spannende Zeit.
Mein eigener Körper und ich, stehen oft im Widerspruch; wir vertragen uns nicht so gut. Wir arbeiten oft gegeneinander, behandeln uns nicht gut und sind selten im Einklang miteinander. Aber das ist anerzogen.
Und genau das wollte ich meinem Kind niemals anerziehen: Dass sein Körper sein Feind ist. Sondern, dass alle Körper toll sind. Egal, wie sie auch aussehen. Und dass jeder Körper ein Kunstwerk der Natur ist. Und zwar genauso, wie er ist!
Mammutaufgabe.
Ich und meine viel zu großen Ziele... Meine zu hohen Erwartungen... Und dann noch diese herablassende Art, die ich manchmal drauf habe. Also, an manchen Tagen gehe ich mir selbst schon auf den Zeiger!
Aber letztendlich war der Tag dann irgendwann da und ich spürte gar keine Scham, keine Anstrengung und keine Art von negativem Gefühl. Er hatte gefragt. Ich hatte geantwortet. Strahlend zeigte er auf das nächste Bild und fragte, was das sei. Kurz: Für meinen Sohn machte es gar keinen Unterschied, ob ich ihm ein Geschlechtsteil oder ein Verdauungsorgan erklärte. Für ihn war das alles Teil des menschlichen Körpers und das war alles gleichermaßen interessant. Und nichts davon verband er mit Scham.
Dabei wollte ich es belassen.
So eine Mammutaufgabe war es gar nicht. Denn Kinder sind total unvoreingenommen und von Natur aus wissbegierig. Ich hatte erfolgreich den ersten Stein, dieses Weges, gelegt.
Mittlerweile ist der Knirps fünf und wir führen viele, viele Gespräche über die Fortpflanzungsorgane. Alle davon sind spannend und lustig. Aber nicht auf die schamhafte, kichernde Art. Sondern einfach lustig-lustig!
Die Vorteile einer anatomisch korrekten Aufklärung liegen auf der Hand:
1. Ein Kind, das ohne Scham, für die Körperpartie zwischen Bauchnabel und Oberschenkel aufgezogen wird, wird ein viel besseres Gefühl für seinen eigenen Körper besitzen und seinen Körper viel eher lieben und akzeptieren, als ein Kind, dem Scham anerzogen wird.
2. Ein Kind, das seine Fortpflanzungsorgane benennen kann, kann auch sagen, wenn es dort irgendwo weh tut. Und zwar rechtzeitig und nicht erst dann, wenn es schon lebensbedrohlich ist.
3. Ein Kind, das weiß, wo alles ist und wie alles funktioniert, wird auch folgerichtig einschätzen können, wann eine Grenze überschritten wird. Mit dem Selbstbewusstsein aus Punkt 1, kann das Kind rechtzeitig "STOP" und "NEIN" sagen, um diese Grenzen klar zu kommunizieren. Solche Kinder sind keine leichten Opfer! #MissbrauchsPrävention
4. Falls es dennoch zu einem sexuellen Übergriff oder einer anderen Grenzüberschreitung gekommen ist, kann das Kind aus Punkt 1 genug Selbstbewusstsein ziehen, um zu einer vertrauten Person zu gehen und dieser von dem Vorfall zu berichten.
5. Ein Kind, das gut aufgeklärt ist, kann sein Wissen auch an andere Kinder weitergeben und/oder im weiteren Verlauf seines Lebens, eine vertraute Person sein, die ich in Punkt 4 erwähnte. Denn ein Kind, das weiß, was ein sexueller Übergriff ist, wird andere Kinder jederzeit dazu anhalten, eine Grenzüberschreitung zu melden und sie wissen lassen, dass es richtig ist, es auszusprechen.
Wie soll ein Kind mit Penis und Hoden, das die Geschlechtsteile als "Mietzi" und "Zipfelchen" kennenlernt, jemals eine völlig schambefreite, gesunde Sexualität entwickeln? Wie soll so ein solches Kind sich seinem Herzensmenschen gegenüber jemals vollständig öffnen und fallen lassen können?
Wie soll ein Kind mit Uterus, das die Geschlechtsteile als "Mietzi" und "Zipfelchen" kennenlernt, jemals völlig frei und schambefreit durch die Gegend laufen können, während es seine Periode hat? Es wird sich Zeit seines Lebens jeden Monat schämen, zu bluten und Sexualpartnern gegenüber niemals klar kommunizieren können, was es möchte oder gerade braucht. Oder auch, was es nicht will.
Wir Eltern sind die einzigen Menschen im Leben eines Kindes, die diesen kleinen Personen SELBSTWERT vermitteln können. Das tut niemand anders. Selbstwert definiert sich über die Menschen, die einen lieben. Und die ersten Menschen, die uns lieben, sind nunmal die Menschen, die uns aufziehen.
Wir haben also eine Verantwortung, der wir nachkommen sollten, wenn wir Eltern sind. Und so ein hohles, dummes Gefühl, wie SCHAM, sollte nicht so viel Macht über uns haben, dass es diese Verantwortung behindert.
Scham ist dumm. Scham macht alles kaputt. Scham ist gefährlich. Scham ist FALSCH. Und zwar in jeder Lebenslage. Scham ist ein Fehler. Scham ist ein Gefühl, das es nicht geben sollte.
Aus dem Grund haben wir, in unserer kleinen Familie, folgende Wörter gestrichen und durch bessere ersetzt:
Schamhaar = Intimbehaarung
Schambereich = Intimbereich
Schamlippen = Vulvalippen
Denn für nichts davon, sollte sich ein Mensch schämen. Dafür gibt es absolut keinen Grund!