Inkonsequenz

Wenn ihr das Wort "Inkonsequenz" im Duden nachschlagt, findet ihr mit Sicherheit ein Foto von mir daneben. Weil ich in einer Sache wirklich immer konsequent bin: In meiner Inkonsequenz.

 

Es gibt Verwandte, Freunde und Bekannte, die der Ansicht sind, dass Inkonsequenz in der Kindererziehung fatale Folgen hat. Dass man niemals von etwas abweichen darf, was man einmal gesagt hat, weil die Kinder einen dann nicht mehr ernst nehmen würden.

 

Hm.

Ich habe darüber viel nachgedacht. Es auch mit eigenen Erfahrungen aus meiner Kindheit und aus der Gegenwart verglichen.

 

Mein Vater war auf ungerechte Weise konsequent. (Beispiel: Ich musste immer alles essen, was auf den Tisch kam. Nichtmögen war keine Option. Er selbst mag keine Nudeln, keinen Reis und kein Hühnchen und bittet meine Mutter ständig, diese Lebensmittel wegzulassen.)

 

Meine Mutter war gelegentlich inkonsequent, hat mir aber meistens auch erklärt, warum.

 

Ich nehme meine Eltern sehr ernst. Manchmal zu ernst. Vor meinem Vater habe ich Angst. Obwohl ich längst erwachsen bin. Aber das ist ein anderes Thema.

 

So, was sind also die Folgen für mich? Die einzige negative Folge daraus, die ich erkennen kann, ist: Ich bin auch inkonsequent.

 

Welche Folgen hat das für meinen Sohn?

Er nimmt mich absolut ernst. Er analysiert mit Scharfblick, wann etwas ernst zu nehmen ist und wann nicht. Meine Glaubwürdigkeit bekommt ihm gegenüber lediglich Risse, wenn ich etwas verspreche und es dann nicht halte.

 

Das versuche ich unter allen Umständen zu vermeiden! Gebrochene Versprechen sind schlimm. Auch das kann ich aus eigener Kindheitserfahrung sagen. Deswegen verspreche ich entweder nichts oder ich halte es. Es ist aber schon mal passiert, dass ich ein Versprechen z.B. nicht halten konnte, weil höhere Gewalt im Spiel war oder andere Personen die Erfüllung unmöglich machten. Das sind diese Fälle, in denen meine Glaubwürdigkeit, bei meinem Sohn, ernsthaft in Gefahr gerät.

 

Es gibt bei uns nur drei feste, unumstößliche Regeln, die unter allen Umständen gelten:

1. Keiner tut dem anderen Gewalt an.

2. Alle bleiben am Tisch sitzen, bis alle fertig sind.

3. Ein Nein muss immer akzeptiert werden.

 

Diese Regeln sind für keinen von uns Dreien verhandelbar. Diese drei Regeln sind das Grundgerüst unseres Zusammenlebens und beinhalten drei wichtige Punkte: Keine Gewalt, Familienzeit und Grenzen.

 

Alles andere kann darauf aufbauen. Aber alles andere ist auch verhandelbar. Und verhandelbare Regeln, sind nach Meinung vieler Leute, inkosequent.

 

Ich sehe das anders, denn manchmal müssen Regeln der Laune der Beteiligten, dem Wetter oder den örtlichen Gegebenheiten angepasst werden.

 

Beispiel:

Mein Sohn darf mit fünf Jahren noch nicht allein über einen vielbefahrenen Parkplatz vom Laden, bis zum Auto laufen. Weil ich das für zu gefährlich halte. Er muss direkt neben mir laufen. Aber: Wenn wir ausnahmsweise mal spät abends einkaufen gehen, sind viele Geschäfte schon zu, der Parkplatz weitestgehend leer und gut überschaubar. In so einem Fall verschaffe ich mir rasch einen Überblick und sage ihm dann, dass er eben doch, ausnahmsweise, bis zum Auto vorlaufen darf.

Anderes Beispiel: Normalerweise wird vorm Fernsehen immer erst das Kinderzimmer aufgeräumt. Das hat rein praktische Gründe: Das Zimmer hat eine rechteckige Form, die Spielsachen sind mittig, auf dem Teppich verteilt und um bis zum Bett zu gelangen, ohne sich irgendwas zu brechen, müssen die Spielsachen halt aufgeräumt werden.

 

Das ist der Regelfall.

Manchmal hatte der Knirps aber auch einen unfassbar anstrengenden Tag, so dass er gar nicht aufräumen kann, weil ihm dafür schlicht die Konzentration fehlt. Oder er brütet etwas aus. Dann wird er schon beim Abendessen weinerlich, weil man ihm sagt, er soll das Glas etwas weiter auf den Tisch schieben, damit es nicht, aus Versehen, mit dem Ellenbogen runtergeschmissen wird.

 

In so einem Fall denke ich mir "Wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich mich jetzt einfach aufs Sofa legen und der Rest der Welt ginge mir echt am Arsch vorbei!"

 

So würde ich es also machen.

Und meinem Kind soll ich dann noch die Macht-Schaufel an den Kopp knallen und ihm sagen, dass er um jeden Preis erst sein Zimmer aufräumen soll, ehe er Fernsehen darf? Warum? Nur, damit ich sagen kann, dass ich immer konsequent bin? Das ist es nicht wert.

 

Dann sag ich ihm, er kann sich aufs Sofa verkrümeln und dann räume ich halt ausnahmsweise das Kinderzimmer allein auf. Nun könnte man meinen - wenn es dann stimmen würde, dass alle Kinder kleine, manipulative Arschlöcher sind -, dass er am darauffolgenden Tag zu mir sagen würde "Du hast ja gestern aufgeräumt, als ich Fernsehen geguckt hab. Dann kannst du das ja jetzt immer ohne mich machen."

 

Nö. Das passiert schlicht bei uns nicht.

Keine Ahnung, wieso. Aber auf die Idee, sowas zu sagen oder so zu argumentieren, ist mein Sohn einfach noch nie gekommen.

Und selbst wenn er sowas mal raushauen würde, würde ich ihm erklären, wie es ist. Dass ich das Zimmer am Vorabend allein aufgeräumt hatte, war eine Ausnahme, weil er z.B. zu erschöpft war. Dass ich das gemacht habe, um ihm etwas Ruhe zu gönnen und runterzukommen. Ich würde ihm erklären, dass das eine Ausnahme war, weil ich ihn lieb hab und ihm was Gutes tun wollte.


Wie ich ihn einschätze, würde er sich bedanken und mich knuddeln.

 

Ich muss nicht 1000 %-ig konsequent in der Erziehung sein, um ein Regelwerk in Gang zu halten. Man darf Ausnahmen machen! Man darf von der Richtlinie abweichen! Man darf das Wort "ausnahmsweise" benutzen!

 

Kinder sind nicht doof. Und sie sind auch keine Haustiere. (Nichts gegen Haustiere!) Sie sind nicht plötzlich völlig verkorkst, weil sie einmal den Nachtisch vorm Mittagessen futtern durften, statt hinterher.

 

Die Tatsache, dass Erwachsene das denken, zeugt nur davon, dass sie ihren Kindern einfach überhaupt nichts zutrauen. Vor allem kein logisches Denken und auch kein Verständnis. Und das finde ich traurig.