Deeskalation: Fehlanzeige!

Das Leben mit Kindern im Kindergartenalter, ist manchmal schwierig. Manchmal sehr. Manchmal öfter. Das verstehe ich. Geht mir ebenso. Geht euch allen so.
Aber heute Morgen gab es bei uns im Kindergarten eine Situation, in der ich selbst fast geweint hätte. Ein Vierjähriger, namens Pepe, hatte seine Lieblingsmurmel Zuhause vergessen. Lautlos weinend, mit dicken Tränen, erzählte er es seinem Vater: "Papa... Wir haben die Murmel nicht mit!" Die Reaktion des Vaters war ein tiefes, genervtes Seufzen, wie es uns Eltern allen ständig rausrutscht.
Aber dann ging es los: Der Vater ließ keinen Zweifel daran, dass das Kind selbst Schuld an der Situation sei. Pepe weinte mehr - immer noch lautlos. "Darf er nicht laut weinen?", dachte ich. Das lautlose Tränenkullern kam mir unnatürlich vor - für einen Vierjährigen. "Da brauchste auch gar nicht heulen, Pepe! Das ist doch nicht schlimm!"
Oh, doch! Das war schlimm. Schlimm für Pepe! Für ihn war das gerade jetzt, in diesem Augenblick, eine totale Vollkatastrophe. Hätte man das Richtige im richtigen Tonfall gesagt, hätte man diese Situation anders lösen können, doch anstatt deeskalierend zu wirken, goss der Vater Öl ins Feuer. Denn als Pepe fragte, ob Papa nicht nach Hause fahren und die Murmel holen könne (Kompromissvorschlag; zwar nicht erfüllbar, aber ein Lösungsansatz, der vom Kind ausging), war der Vater einem Ausraster nahe. "Bestimmt nicht!", stellte er klar. Inzwischen hatte er sich auch aus der Hocke erhoben und stand vor seinem Sohn und sah auf ihn herab. Das Machtgefälle war nun sogar sichtbar geworden. Das Kind hatte ein Problem. Der Erwachsene aber keinen Bock, es zu lösen.
Pepe weinte nun so sehr, dass sein T-Shirt am Halsbündchen ganz nass geworden war. Mit ausgestreckten Armen machte er einen Schritt auf seinen Papa zu. Dass er seine Murmel heute im Kindergarten nicht dabei hatte, war er nun - in Ermangelung einer Alternative und eines Kompromisses - bereit, zu akzeptieren. Aber es fühlte sich sehr schlimm an und er wollte einfach nur in den Arm genommen und getröstet werden - das war offensichtlich. War es nur für mich offensichtlich? Ich schluckte an aufsteigenden Tränen des Mitgefühls, als Pepes Vater nicht etwa zurück in die Hocke ging, sondern einen Schritt zurück trat und zu dem tröstebedürftigen Sohnemann, wie zu einem Hund, mit erhobenem Zeigefinger sagte: "Neeeein, Pepe! Neeeein!" Hätte Pepe jetzt Sitz und Platz gemacht, hätte der Vater ihm vielleicht einen Hundekeks zugeworfen.
Stattdessen weinte Pepe weiterhin lautlos und senkte erst die Arme und dann den Kopf. Genauso gut hätte sein Vater ihm eine reinhauen können. Der Effekt wäre vermutlich derselbe gewesen. Als ich gerade den Entschluss gefasst hatte, mich in eine Situation einzumischen, die mich wirklich überhaupt nichts angeht, kam eine der Erzieherinnen aus dem Gruppenraum. Sie hatte die Lage wohl von drinnen belauscht. Sie nahm Pepe zärtlich an der Hand und belaberte ihn solange, bis er abgelenkt war und ohne Schwierigkeiten in den Gruppenraum ging.
Beim Rausgehen checkte Pepes Papa, mit einem Handspiegel, zwei Mal den korrekten Sitz seiner Frisur und seines Bartes. Prioritäten sind wichtig. (Achtung: Ironie.)
Diese Situation nahm mich mit. Nicht das Schauen in den Spiegel. Sondern das, davor.
Weil es mich immer mitnimmt, wenn Eltern empathielos mit ihren Kindern umgehen. Für Pepe war die Situation in dem Augenblick schlimm. Das ist Fakt. Ihm seine Gefühle abzusprechen ("Das ist doch nicht schlimm!"), ihm selbst auch noch die Schuld daran zu geben und ihn dann obendrein noch mit Liebesentzug zu bestrafen, tat mir richtig weh - und Pepe erst!
Im Auto sitzend, überlegte ich, wie ich das geregelt hätte. Ich hätte wahrscheinlich sowas Ähnliches gesagt, wie "Oh man, das ist ja voll blöd, jetzt. (Verständnis für die Gefühle des Kindes zeigen, statt sie ihm abzusprechen.) Morgen denken wir gemeinsam dran, okay? Also, du auch - wir beide. Dann können wir sie eigentlich nicht vergessen. Was hältst du davon, wenn du gleich einen Erinnerungszettel, im Gruppenraum, malst? (Ablenkung.) Den kleben wir uns heute Abend in die Küche. (Durchführbarer Verbesserungsvorschlag.)."
Dass ich meinen Sohn tröstend in den Arm genommen hätte, versteht sich von selbst.
Ich bin mir sicher, die Situation wäre nach 20 Sekunden vorüber gewesen - womöglich sogar ohne Tränen.
Aber klar, mein Sohn ist nicht Pepe. Kinder sind alle verschieden und reagieren verschieden. Eltern auch. Trotzdem war das Verhalten von Pepes Vater in keiner Weise deeskalierend. Es machte alles nur noch schlimmer.
Wenn man eh schon keinen Bock darauf hat, ewig im Kindergarten rumzudiskutieren (und das verstehe ich vollkommen!), sollte man doch lieber den Weg des geringsten Widerstandes gehen, oder? Öl ins Feuer zu gießen, ist nicht der Weg des geringsten Widerstandes!
Verständnis und Ablenkung funktionieren hingegen durchaus!