Das müssen die doch wissen!

Meine Hochsensibilität blinkt nicht als grünes Licht, an meiner Stirn, wenn ich in den Spiegel schaue. Das heißt, ich wusste die ersten 30 Jahre meines Lebens nicht, dass ich hochsensibel bin. Und auch nicht, dass ich nicht die Einzige bin. Ich wusste nicht mal, dass es für meine Seltsamkeiten einen Begriff gibt.
Damals, wie heute, gibt es immer wieder Situationen und Diskussionen, in denen ich mich dabei ertappe, wie ich innerlich, aber auch manchmal sehr lautstark denke "Das müssen die doch wissen! Verdammt nochmal, so dumm kann ein Mensch doch gar nicht sein?!"
Wenn du, geneigter Leser, auch hochsensibel bist, weißt du mit Sicherheit ganz genau, was ich meine. In meinem Kopf ist ein Denken, von Punkt A zu Punkt B, nicht möglich. Ich sehe immer das gesamte Alphabet und jeden Weg, der den einen, mit dem anderen Buchstaben verbindet. Querverweise, Kurven, Brücken... Ich denke immer sehr komplex. Nie einfach. Immer um die Ecke. Nie eine gerade Strecke.
Das ist anstrengend, lässt sich jedoch nicht abstellen.

Wenn ich dann einen Sachverhalt vor mir habe, analysiere ich diesen mal schneller, mal langsamer, komme aber immer zu irgendeinem Schluss. Einem Fazit. Und zwar unter Einbeziehung aller Eventualitäten. Ich betrachte immer jede Situation aus jedem, mir möglichen, Blickwinkel. Ich wäge jedes Für und Wider ab. Dann versuche ich, so rational, wie es möglich ist, zu entscheiden, was ich darüber denke, wie ich vorgehe oder zu was ich raten soll.
Das ist keine freie Entscheidung von mir oder so. Das passiert von ganz allein.
Und immer wieder kommt es vor, dass ich meine Gedanken dann mitteile und gefühlt 1000 andere Leute antworten "Wow! Also, man kann's auch übertreiben! An sowas darf man gar nicht denken. Wie kommst du darauf?"
Wie ich darauf komme? Wtf? Das müssen die doch wissen! Denken die selber denn gar nicht nach?
Nee. Das müssen die nicht wissen!
Und nee, die denken nicht so nach, wie ich. Ich muss aufhören, vorauszusetzen, dass jeder meiner Mitmenschen so denkt, wie ich. So fühlt, wie ich. In der Lage ist, komplexe Zusammenhänge auf die Art zu sehen, wie ich. Menschen, die nicht hochsensibel sind, tun das nämlich nicht. So schlicht und einfach ist das!
Aber in der allgemeinen Konversation mit der Gesellschaft zu stehen und zu begreifen, dass die anderen Gehirne alle völlig anders arbeiten, als meins, ist sehr schwer für mich. Ich komme mir dabei oft arrogant und herablassend vor. Ich halte mich nicht für was Besseres. Im Gegenteil: Ich halte meine Mitmenschen immer für viel, viel klüger, als sie tatsächlich sind! Ich setze meinem Gegenüber voraus, dass er fähig, willens und in der Lage ist, meinem Gedankenkonstrukt folgen zu können. Und es ist nicht seine Schuld, dass er es nicht kann.
"Ändere doch einfach deine Hautfarbe!"
Geht nicht. Richtig?
Tja, manche Dinge an uns, sind eben unveränderlich. Dafür können wir nichts, denn ihr Ursprung liegt in unserer DNA und damit weit ab des Bereiches, den wir kontrollieren können.
Und dennoch wird mir immer wieder sowas gesagt, wie:
"Dann denk halt nicht dran!"
"Denk doch nicht immer so viel nach!"
"Wie kann man sich nur über sowas Gedanken machen?"
"Vergiss es einfach!"
"Einfach nicht drüber nachdenken und weitermachen."
"Du machst dir das das Leben, mit deinen Gedanken, auch selber schwer."
*Achtung Ironie* Ach, SO geht das!? Ich hab das die letzten 37 Jahre meines Lebens einfach total falsch gemacht. Ich muss einfach nur AUFHÖREN, nachzudenken!? Warum hat mir das keiner gesagt? So werde ich es ab sofort machen! Ich bin geheilt, juchu! *Ironie Ende*
Ich bin hochsensibel. Wenn es mir irgendwie möglich wäre, NICHT zu denken, würde ich es tun. Wenn eine gute Fee mir anbieten würde, mir mein linkes Bein zu nehmen, um nicht mehr hochsensibel zu sein, würde ich persönlich die Säge holen und loslegen!
Kurz: Ich kann nicht ändern, dass mein Gehirn 24/7 d-e-n-k-t. Das ist nichts, was ich absichtlich tun würde. Das ist nichts, was ich kontrollieren könnte!
Wer mich also auffordert "Denk einfach nicht darüber nach!", dem muss ich entgegnen "Ändere doch einfach deine Hautfarbe!" Beides ist vom Schwierigkeitsgrad her exakt gleich schwer.
Und zwar gleich schwer unmöglich.
In letzter Zeit lese und höre ich sehr oft davon, dass Mütter das Gefühl haben, dass sie besser keine Kinder hätten bekommen sollen. Sie sind es leid, ihre Kinder zu wickeln, ihnen was zu Essen zu machen, alles aufzuräumen, mit ihnen in einem Bett zu schlafen, selbst nicht dazu zu kommen, zu duschen und dergleichen. Überhaupt heißt es ständig "Ich will nicht nur eine Mama sein." und "Ich bin immer noch ein eigenständiger Mensch!" oder "Mir geht's besser, wenn die Kinder bei Oma sind." etc.
Es ist kein impulsives Denken dazu. Ich hab mir Zeit genommen, darüber nachzudenken, was ich davon halte und mir - unter Berücksichtigung aller Fakten - eine Meinung zu bilden.
Immer öfter denke ich: "Okay, aber hat dir vorher keiner gesagt, dass man sich um Kinder kümmern muss, wenn man sie zur Welt gebracht hat?" Denn ich bin verwirrt. Was haben diese Frauen denn gedacht, wie es sein würde, wenn man dann ein Kind hat? Oder mehrere?
Ich meine, dachten sie, sie drücken so'n kleinen Menschen raus und der sucht sich in seiner 1. Lebenswoche einen Job und ne eigene Wohnung? Oder wie?
Es ist mir schleierhaft, wie man sich für ein Kind entscheiden, aber dann die Verantwortung nicht tragen kann. Oder will. Und ständig darüber meckert.
Ich meine, was genau war denn bei solchen Frauen die Intension dahinter, schwanger werden zu wollen? Am Ende ein Kind zu HABEN ja offensichtlich nicht. Es wirkt in der Mehrheit der Fälle so, als wäre der Plottwist, dass man sich dann die nächsten ~ 18 Jahre um sie kümmern muss, wirklich komplett überraschend für sie gekommen.
Was war also der maßgebliche Faktor für die Entscheidung, nun ein Baby zu bekommen?
Ein Trend? Weil alle das machen?
Gesellschaftlicher Druck, wie bei Herzogin Kate?
Oder das Denken, dass ein Kind den Partner für immer an sie bindet?
Was???
Der Wunsch, eine Mama zu sein und das auch gerne zu sein, war anscheinend wohl nicht der Grund.
Ich möchte es gern verstehen. Aber wenn ich solche Mütter dann nach dem Grund frage, fühlen sie sich angegriffen. Manchmal so sehr, dass in mir der Gedanke gereift ist, dass das gar kein Ärger ist, der da aus ihnen spricht, sondern das schlechte Gewissen. Sie merken nach der Geburt des Kindes, dass es eine schlechte Idee war, schwanger werden zu wollen.
Ja. Scheiße, würde ich mal sagen.
Du kannst dir das verkehrte Auto aussuchen oder versehentlich neongrüne Socken zu roten Sneakern anziehen. Aber wie kann man sich denn versehentlich für ein Kind entscheiden? Das ist ja keine Sache, die man aus Versehen im Suff entscheidet oder sowas.
Ich meine, es geht hier darum, die Entscheidung zu treffen, einem neuen MENSCHEN das LEBEN zu schenken! Menschen zu MACHEN. Mit einer Seele, mit Wünschen, Träumen, Gefühlen, Geschmäckern. Menschen, die dann auch erwachsen werden und dann Teil der Gesellschaft sind. Ist diesen Frauen nicht klar, was für eine immense Verantwortung das ist?
Wie kann man einen neuen Menschen machen, ohne sich dieser Verantwortung bewusst zu sein?
Ja, das klingt jetzt anklagend. Und so leid es mir tut: Das soll auch so klingen. Nicht für die Mütter, die sich bereits falsch entschieden haben.
Sondern für die Frauen, die in einem Anflug von "Och, kauf ich mir jetzt einen Satz neue Handtücher oder machen wir ein Baby?", ein neues Accesoire suchen. Denkt VORHER darüber nach, ob ihr den Rest eures Lebens eine Mama sein möchtet. Und wenn ihr das nicht aus tiefster Seele mit einem "JA, ich will!" beantworten könnt, dann lasst es. Lasst es einfach. Niemand kommt zu schaden, wenn ihr KEIN Baby bekommt.
Aber ein enorm großer Schaden entsteht, wenn ihr einen neuen Menschen macht und es dann bereut. Denn eure Kinder MERKEN das. Früher. Oder später. Aber sie merken das! Und das haben sie nicht verdient. Denn sie haben nicht für sich selbst entschieden, geboren zu werden.
DU, geneigte Leserin, entscheidest, dass dein Kind leben soll. Also trägst DU auch die Verantwortung dafür! Und nein, du teilst diese Verantwortung NICHT mit einem anderen Elternteil. DU triffst die Entscheidung, dass dieser kleine neue Mensch geboren wird. Aus deinem Bauch. DU trägst die Verantwortung und niemand sonst.
Also entweder entscheidest du dich DAFÜR und zwar mit ALLEN Konsequenzen und schluckst deinen fucking Egoismus runter!
Oder du lässt es einfach bleiben.
Bitte!