Hinterrücks
Und dann sitze ich mitten auf dem Küchenfußboden. Inmitten eines Berges von Stoffen, die ich verarbeiten soll. Und halte inne.
"Ist sie gesund?" - "Ja. Und wunderschön!", wispert das Radio. Eine Pastorin gibt ihre Anekdote des Tages zum Besten. Um ein Neugeborenes geht es. Darum, dass jemand gehofft und gebetet hat, es möge alles gut gehen. Und dann die erlösende Nachricht.
Und mich trifft das mal wieder aus dem Hinterhalt. Wie ein Dolchstoß, von hinten, durch die Rippen. Meine Finger verkrampfen sich um das flauschige Grün, Tränen steigen in mir auf. Und der Kahn mit der ganzen Gedankengesülze tuckert aufs offene Meer hinaus.
"Gesund?", höre ich mich tonlos sagen. Es ist niemand da, der mich hören würde. "Gesund!", stoße ich noch einmal voller Verachtung hervor. Dass unser Sohn gesund ist, hatten wir auch gedacht. Drei Tage lang. Warum fragen die Leute das immer? Ob das Baby gesund ist? Was sie eigentlich meinen, ist doch, ob das Kind Fehlbildungen oder offensichtliche Behinderungen hat. Denn ob es gesund ist oder nicht, kann dir sowieso erstmal überhaupt keiner sagen. Und wenn sie es könnten, tun sie es nicht, sondern verkaufen dich stattdessen für dumm.
Gesund.
"Die Nieren von Ihrem Sohn sind etwas zu klein. Das müsste sich dann ein Spezialist ansehen."
Gesund.
Gesundgesundgesundgesund. Das Wort hämmert auf irgendeinen Punkt in meinem Gehirn ein. Ich gebe ein Ächzen von mir und sinke zurück, auf einen flauschigen Haufen rot und schwarz. Beinah muss ich lachen. Rot und schwarz. Rot ist Leben. Schwarz ist Tod. In was für einfachen Mustern ich manchmal denke!
Ich blicke zum Kühlschrank hoch und betrachte das Foto meines kleinen Prinzen. Wuselige blonde Haare, ein freches Grinsen, rosige Wangen. Er ist nicht krank. Nur... er ist auch nicht ganz gesund. Nun quellen die Tränen hervor. Sollte man sich nicht Freude ergeben fühlen, wenn man das Foto seines geliebten Kindes anschaut? Stattdessen greift mein dunkler Begleiter nach meinem Herzen und presst es in seiner bösen Hand zusammen. Erneut bricht ein Ächzen aus mir heraus. "Ich will das nicht!", rufe ich laut. Einen Adressaten für diese Worte gibt es nicht. Niemand ist da. Niemand hört zu. "Ich will das nicht!", rufe ich noch einmal. Lauter. "Ich will diese Scheisse nicht mehr!", schreie ich nun und schmeiße den grünen Flausch quer durch die Küche.
"Diese Scheisse" ist meine Angst. Ich will keine Angst mehr haben. Und ich will auch nicht, dass diese Angst ständig unvermittelt auftaucht und mich schachmatt setzt.
Prügeln würde ich mich gern mit ihr. Fair. Von Angesicht zu Angesicht. Die Nase würde ich ihr brechen, wenn ich könnte.
Aber meine Angst ist klug und erscheint nun mal nicht als Person, sondern "nur" als Gefühl. Auf einmal wird mir klar, woher dieses durchdringende Verlangen kommt, mich in solchen Momenten selbst verletzen zu wollen. Ich will gar nicht mich selbst verletzen. Ich will diese Angst verletzen, die ich mir wohnt. Abstechen will ich sie. Eine Erkenntnis, die viele Jahre gedauert hat, trifft mich in diesem Moment, wie ein Blitz. Das Ächzen ist nun ein Schluchzen. Rotze sammelt sich auf meiner Oberlippe. "SCHEISSE!", schreie ich wieder in die Stille der kleinen Küche.
Niemand da. Nur ich. Und die Angst, als dunkler Schatten.
Und beide wohnen in mir drin. Und es gibt absolut nichts, was ich dagegen tun könnte.